Interview mit dem Schulleiter Damian Gsponer

Die Schule im oberwalliser Bergdorf Bratsch ist eine etwas andere. Hier gibt es keinen Unterricht, keine Fächer, keine Noten. Ist dies ein Garant, dass so kein Leistungsdruck entsteht? Wir sprachen mit dem Schulleiter Damian Gsponer.

Wellvida: Würden Sie denn behaupten, dass durch dieses Modell nie einen Leistungsdruck entsteht? Es gibt ja immer trotz allem immer irgendwelche Vorgaben – Zeitvorgaben zum Beispiel.

Also erstmal denke ich, dass die Leute die lieben was sie tun, eine enorme Leistung vollbringen können. Ein Leistungsdruck ist häufig ein eigener, ein selbstgemachter. Wir versuchen in einem solchen Fall herauszufinden, aus was beziehst du deinen Selbstwert. Hat das mit Leistung zu tun? Oder gibt es auch die Sicherheit ich bin wertvoll, gut genug und kann ich aus dieser Position die Leistung erbringen.

Bei den Abgängern gibt es für die Berufswelt verschiedenste Einstiegsmöglichkeiten entsprechend dem Level und dem Tempo. Für uns ist auch nicht entscheidend, ob ein Kind uns mit 15, 16 oder 17 Jahren verlässt. Es ist eine Frage der Reife. Manche sind früher bereit, manche später. Diesen Moment zu finden ist sehr wichtig. Dann sind die Kinder auch konstant leistungsfähig.

Das bemerken wir bei den Zielsetzungen. Diese selbständige Zielsetzung trainieren sie bei uns schon ab Zyklus 2, also ab ca. im 8. Lebensjahr. Das Kind setzt sich ein Ziel für nächste Woche. Das ist sehr schwierig. Setz ich das Ziel zu hoch, zu tief? Schon nur für uns Erwachsene ist das schwierig zu regulieren. Das trainieren sie im kleinen Rahmen. Das wird ausgewertet und angeschaut, an was es gelegen hat, dass ein Ziel nicht erreicht wurde. War die Planung nicht gut genug? War die Verlässlichkeit nicht vorhanden? War das Zeitbudget zu knapp? Wenn du die Strategien der Zielsetzung erlernst, dann beginnst du Freude zu haben ein Ziel zu setzen, das in der Wachstumszone liegt. Also nicht Komfortzone und auch nicht Panikzone, sondern eben diese Mitte, diese Wachstumszone. Wenn das Kind merkt, ich kann mir selber Ziele stecken, die kann ich in diesem Zeitpunkt auch erreichen, dann ist das natürlich auch ein schönes Gefühl. Das trainieren sie bei uns von Klein auf. Diese Strategien der Selbstorganisation wollen wir ja mitgeben. Unser Ziel ist es die personale Kompetenz aufzubauen, genauso die soziale Kompetenz. Sie wissen: wie lerne ich, wie organisiere ich mich, wo kann ich Hilfe holen. So werden sie alles meistern. Bei den 18 Abgängern haben wir damit bislang sehr gute Erfahrungen gemacht. Wir sehen die Kinder in einer aktiven Position. Eher auf der Produktionsseite und nicht auf der Konsumentenseite. Wir legen Wert darauf, dass sie selber die Wege gehen und wir begleiten.

    Wellvida: Das braucht einen hohen eigenaktiven Einsatz. Sind Sie tagtäglich motiviert?

    Das ist sehr unterschiedlich. Ich liebe auch was ich tu. Aber ich bin auch nicht jeden Tag gleich unterwegs und das ist ja auch das Schöne. Bei jedem Projekt ist am Anfang eine Riesenmotivation und Vision da. Bei jedem Projekt kommt irgendwann der Moment, da sinkt die Motivation. Es geht zum Beispiel darum, ein Gesuch zu schreiben an die Gemeinde und eigentlich will man ja Hühner. Aber man weiss, um dahin zu kommen braucht es diesen Schritt auch. Und dann nimmt man Dinge in Kauf zu tun, die man weniger gerne tut, um dahin zu kommen wo man hin will.

    Das ist dann der Moment für uns Pädagogen. Schon bei der Eingabe schauen wir mit dem Kind: hast du den Atem dafür? Wir schauen bei den Kindern, dass sie nicht zu viele Projekte umsetzen. Damit wir diese Kurven gut begleiten können. Unsere Haltung ist, dass wenn wir etwas beginnen, dies auch zu Ende führen. Das ist meist möglich. Es gibt Projekte, die muss man aus finanziellen oder aus anderen übergeordneten Gründen abbrechen. Aber diese Selbstdisziplin, wenn es mal mit der Kurve nach unten geht mit der Motivation, die zu überwinden und das zu schaffen, das ist ein anderes Gipfelgefühl, als wenn alles linear immer schön und gut geht. Das ist uns etwas vom Wichtigsten, diese Selbstdisziplin zu fördern in dem Moment wo es kritisch wird. Als Erwachsener zu sagen: ich bin da, wir gehen zusammen da durch, das schaffen wir. Es nochmal zu visualisieren – diese Hühner sind greifbar nahe. Es ist einer der Hauptkomponenten im Berufsleben, diese Selbstdisziplin. Aber die kann ich nicht erlernen, wenn sie mir abgenommen wird. Es muss der Raum da sein, das zu erleben, auch Misserfolge zu erleben und sich wieder aufzurappeln. Im Film „Bratsch – ein Dorf macht Schule“, sieht man das auch. Es gab Einsprachen für den Hühnerstall. Das war ein grosser Crash für die Kinder. Neun Monate Arbeit und dann hiess es plötzlich: kein Hühnerstall. Dann mussten sie sich wieder aufrappeln, es juristisch genauer anschauen, den Gemeinderat, die Nachbarn einladen. Das zu überwinden und die Hühner kommen dann trotzdem, das ist ein Glücksgefühl in dem Moment.

      Wellvida: Beim Thema Leistungsdruck wird der Fokus stets auf die Kinder gelenkt. Aber auch der Pädagoge spielt dabei eine wesentliche Rolle. Inwiefern müsste auch die Position der Lehrperson beachtet werden?

      Wir legen Wert darauf, dass wir sehr viel gemeinsame Austauschzeit haben. Wir kommen ungefähr auf 16 Stunden pro Woche in denen wir Pädagogen uns ohne die Kinder besprechen, auswerten und planen. Das ist ein tragfähiges Netz um gesund zu bleiben. Am Mittwoch haben unsere Kinder schulfrei. Wir gehen aber alle nach Bratsch und wir besprechen Themen, die aktuell auf dem Plan sind. Und zwar nicht einfach nur organisatorisch, sondern auch pädagogisch. Machen Videoanalysen und legen Wert darauf, dass jeder Pädagoge auch ein persönliches Wachstum erlebt und auch ein Coaching bekommt. Ich denke, wenn ein Mensch im Wachstumsprozess bleibt ist das auch eine schöne Geschichte. Was wir hören ist, dass es halt lange Tage sind bei uns. (29:50) Ich denke in der Regelschule kann man theoretisch um 8 Uhr zum Unterreicht gehen, um 12 Uhr wieder nach Hause. Dann von 14 Uhr bis 16 Uhr wieder und ist zwischendurch flexibel. Wir haben grundlegend keine flexiblen Zeiten, sondern fixe Arbeitszeiten. Das schützt die, die nicht aufhören würden zu arbeiten. Am Anfang ist das immer eine Umstellung, aber meist schätzen die Leute das nachher sehr. Weil sie wissen: wenn tagsüber etwas ist, irgendein Konflikt, etwas Emotionales, das aufgeräumt werden muss, dann hat es am Abend mindestens eine Stunde Zeitraum um es gemeinsam zu besprechen. Es geht niemand emotional unaufgeräumt nach Hause. Weil es ist das was irgendwann zu nagen beginnt. Gerade auch für Junglehrpersonen ist dann wie klar, am Abend auswerten und ich habe schon eine Idee für morgen, wie ich mit dieser Situation umgehen kann. Dann ist der Erholungseffekt zwischendurch natürlich bedeutend anders.

        Wellvida: Dieses Modell braucht – so denke ich – sehr viel Engagement und Herzblut, sicher auch immer wieder mit Grenzüberschreitungen. Was war für Sie der innere Antrieb zum Schritt dieser Schulgründung?

        Als Kind stellte ich fest, dass für mich Schule und Leben zwei verschiedene Dinge waren. Ich habe mich nicht sehr wohl gefühlt in diesem Modell. Ich hatte einen sehr hohen Bewegungsdrang, konnte den aber nicht ausleben. Das waren alles Dinge, die mich sehr geprägt haben. Über den Fussball, als Kinderfussballtrainer, habe ich gemerkt, dass ich Kinder sehr gerne begleite. Ich kam so auf die PH-Schiene. Aber schon damals auf der PH sagte ich zu meiner zukünftigen Frau, dass ich mir nicht vorstellen kann, lange mit diesem Modell das im Moment vorherrscht, zu arbeiten. Dass ich da auf die Suche gehen werde, um den Kindern eine andere Kindheit zu ermöglichen. Seither war es eine Forschungsreise für mich. Ich habe wie den Auftrag in mir gespürt, das zu tun. Meine Biografie, die Erfahrungen, die ich machte, die Stärken, die ich mitbekam – das hat wie zusammengepasst. Es war sicher nicht der bequemste Weg, aber ich war naiv genug, ihn zu starten. (lacht).

          Wellvida: Ich habe gehört, auch der Kanton Bern ist hellhörig geworden, interessiert sich für Ihr Schulmodell. Vielleicht kommen andere noch hinzu. Was wünschen Sie sich grundsätzlich für das Bildungssystem Schweiz?

          Ich hatte immer die Volksschule im Visier. Es war immer mein Wunsch, innerhalb der Volksschule dieses Modell umzusetzen. Das war hier in Bratsch im Wallis leider nicht möglich. Aber es ist tatsächlich so, dass – auch durch den Film denke ich – andere Kantone auch aufmerksam wurden und da unter Umständen Möglichkeiten entstehen so etwas versuchsweise einzubinden. Das ist schon einmal eine wunderbare Geschichte, über die ich mich sehr freue.

          Wenn ich mir was wünschen könnte, dann würde ich vor allem eine Haltung wünschen. Wir haben bei uns in Bratsch drei plus eins Wertgrundsätze. Das sind drei Punkte. Der erste ist die Freundlichkeit. Ich denke, die Welt würde schon ganz anders aussehen, wenn man bloss freundlich zueinander ist. Das kann ein „Hallo“ auf der Strasse sein. Oder wenn der Lehrer lächelt und das Kind begrüsst, wenn es zur Schule kommt. Das hat schon eine massive Wirkung. Als wenn er nur am Tisch sitzt, am Korrigieren ist und das Kind gar nicht bemerkt, wenn es reinkommt. Das Kind wird gesehen und erlebt diese Freundlichkeit, vielleicht mit der Begrüssung „schön bist du da“. Das wäre umsetzbar ohne Kurse, ohne Budget.

          Der zweite Grundsatzpunkt ist: wir wollen dienen. Unser Dasein soll kein Selbstzweck sein, sondern wir wollen uns investieren. Zum Beispiel in die Leute vom Dorf, mit einem e-Banking Kurs. Das hat man im Film auch gesehen. Oder wir produzieren etwas im Garten, das kommt irgendwo jemandem zu. Es geht immer darum, die Fähigkeit zu gebrauchen um anderen zu dienen. Dazu muss man aber seine Stärken kennen. Damit man weiss, womit man am besten dienen kann.

          Das Dritte ist dann, dass wir das auch erfolgreich tun wollen. Wir wollen es auch auf den Boden bringen. Wir wollen auch Resultate aufzeigen können. Wenn ich jetzt diese 18 Abgänger nehme, die wir hatten, schauen wir: waren sie erfolgreich oder nicht? Das ist wie ein Qualitätsmanagement. Wenn sie nicht erfolgreich waren, dann müssten wir etwas ändern. Wir haben den Anspruch an uns, dass sie das in der Wirtschaft und in den weiteren Schulen gut meistern. Das ist bislang so der Fall.

          Wir haben drei plus eins Wertgrundsätze. Wenn der Letzte da ist, sind die anderen Drei gar nicht mehr so wichtig. Das ist das Liebende. Wir bringen jeweils das Beispiel von einem Handwerker: bei dir zu Hause ist etwas defekt. Es kommt ein Handwerker vorbei und ich denke, du spürst innerhalb von ein paar Sekunden: ist das jemand, der seine Arbeit mit Liebe macht oder nicht. Wenn du das spürst, dass er seine Arbeit mit Liebe macht, dann kannst du ihn arbeiten lassen. Das wird garantiert gut sein. Wenn du spürst, der macht einfach einen Job und will möglichst bald weg, dann solltest du ihn gut kontrollieren. Weil er höchstwahrscheinlich die Tendenz hat zu pfuschen. Ich glaub, das ist der massgebende Unterschied. Wenn jemand gerne das tut was er tut, dann ändert das – alles!

            Wellvida: Das Liebende als ideale Haltung oder als zu erstrebendes Ziel. Das ist ein hoher, sehr schöner und zentral wichtiger Gedanke.

            Ja, wenn du weisst wo du gut bist und damit jemandem dienen kannst, dann brauchst du nur noch das Selbstbewusstsein, das auch zu tun. Dann ist die Zukunft für dich wie gesichert. Dann ist deine Aufgabe, Menschen zu helfen, Probleme zu lösen. Du kannst deine Stärken einsetzen. Bei vielen scheitert es, weil sie den Mut nicht haben. Sie spüren zwar, das würde ich gerne tun, das wäre richtig, aber schaffe ich das? Manchmal liegt es daran, dass man die Stärke überhaupt nicht kennt. Das ist einer unsere Aufträge in Bratsch, dass die Kinder ihre Stärken finden. Die finden sie aber nicht indem sie sieben Stunden am Pult sitzen. Weil viele haben die Stärken ausserhalb der Bücher.

            Damian Gsponer, ganz herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit Ihrer Schule in Bratsch.

            Filmempfehlung: Bratsch – Ein Dorf macht Schule. Ein Film von Norbert Wiedmer.

            Bestellmöglichkeit: https://www.filmcoopi.ch/movie/bratsch-ein-dorf-macht-schule oder https://www.srf.ch/play/tv/redirect/detail/9cf21001-075f-4da0-9c9f-e6a1237b8e73

            Weitere Informationen über die Schule:  https://gd-vs.ch